Betriebliche Übung
1. Was versteht man unter dem Begriff der betrieblichen Übung?
In der heutigen Berufswelt entstehen häufig Gewohnheiten und tatsächliche Verfahren, aufgrund derer die Arbeitnehmer ihre Arbeitspflichten in einer bestimmten Art erfüllen müssen oder der Arbeitgeber bestimmte Leistungen an seine Arbeitnehmer erbringt. Wiederholen sich diese Vorgänge über einen längeren Zeitraum fortlaufend und gleichförmig, können sie eine sog. betriebliche Übung begründen. Die betriebliche Übung führt zur rechtlichen Bindungen der Vertragsparteien.
Besonders hervorzuheben ist die kollektive Ausrichtung der betrieblichen Übung. Sie richtet sich an alle Arbeitnehmer des Betriebs oder an eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern. Individuelle Besonderheiten spielen keine Rolle.
Von der betrieblichen Übung abzugrenzen ist eine Individualvereinbarung, die durch schlüssiges Verhalten des Arbeitgebers zustande gekommen ist. Hier bezieht sich das konkrete Verhalten nur auf einen einzelnen Arbeitnehmer.
2. Auf welcher Rechtsgrundlage beruht die betriebliche Übung?
Die Rechtsgrundlage der betrieblichen Übung ist umstritten. Diesbezüglich werden überwiegend zwei Ansichten vertreten.
Nach der von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelten Vertragstheorie, entsteht ein Anspruch aus betrieblicher Übung aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Übereinkunft. In der regelmäßigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers soll ein konkludentes Vertragsangebot liegen. Dieses Angebot wird, nach der Rechtsprechung, dann von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen. Im Ergebnis entsteht also zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Vertrag, aus dem bei Eintritt der vereinbarten Anspruchsvoraussetzungen ein einklagbarer Anspruch auf die üblich gewordene Vergünstigung erwächst.
In der Lehre wird überwiegend die Vertrauenshaftungstheorie vertreten. Danach beruht die betriebliche Übung auf einem von dem Arbeitgeber durch seine gleichförmige Handlungsweise in der Vergangenheit bei dem Arbeitnehmer begründetem Vertrauen, dass er sich in Zukunft gleich verhalten wird. Die rechtliche Bindung des Arbeitgebers entsteht dann deshalb, weil die Nichtfortsetzung des bisherigen Verhaltens gegen das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens verstoßen würde.
3. Was unterfällt der betrieblichen Übung?
Grundsätzlich gilt, dass für alle Arbeitsbedingungen die Gegenstand einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung sein können, auch eine betriebliche Übung begründet werden kann. Hiervon vor allem betroffen sind Regelungen, die für alle Arbeitnehmer von Bedeutung sind. Wird durch die betriebliche Übung eine Vertragsbedingung begründet, enthält diese damit Allgemeine Geschäftsbedingungen, die ebenfalls der AGB-Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterliegen.
Eine betriebliche Übung kann sich darüber hinaus auch durch die Ausübung des Direktionsrechts ergeben. Zu beachten ist aber, dass nicht jeder für eine längere Zeit bestehender Umstand eine betriebliche Übung begründet. Der Arbeitgeber ist nicht dazu verpflichtet in bestimmten zeitlichen Abständen in seinem Betrieb zu erklären, dass er nach § 106 GewO über sein Direktionsrecht verfügt und nicht auszuschließen sei, dass er hiervon auch abweichend Gebrauch machen wird.
4. Wann entsteht eine betriebliche Übung?
Im Grundsatz gilt zunächst, dass ein Anspruch aus betrieblicher Übung nur entstehen kann, wenn keine andere rechtliche Grundlage für die Gewährung der Leistung besteht. Liegt eine solche Rechtsgrundlage nicht vor, ist für die Begründung einer betrieblichen Übung ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers erforderlich, aus dem die Arbeitnehmer schließen durften, der Arbeitgeber wolle sich zu einer Leistung auch für die Zukunft verpflichten. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann regelmäßig nur für den konkreten Einzelfall bestimmt werden. Es gibt keine Regelung, nach der bei einer bestimmten Anzahl von Wiederholungen der Leistung stets eine betriebliche Übung angenommen wird. Eine Ausnahme gilt für jährlich an die gesamte Belegschaft gewährte Gratifikationen. Hier entsteht eine betriebliche Übung und somit ein individualrechtlicher Anspruch, wenn die Leistungen in drei aufeinander folgenden Jahren vorbehaltlos und in gleichbleibender Höhe gezahlt werden. Bei anderen gewährten Leistungen ist unter anderem die Relation von Anzahl der Wiederholungen und Dauer der Übung sowie Art und Inhalt der Leistungen entscheidend.
Das Bundesarbeitsgericht lehnt einen Anspruch aus betrieblicher Übung ab, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmern Leistungen gewährt, die sich in ihrer Höhe immer unterscheiden. Durch die wechselnde Höhe soll der Arbeitnehmer erkennen können, dass der Arbeitgeber über die Gewährung der Leistung in jedem Jahr neu entscheiden will.
Darüber hinaus entsteht ebenfalls keine betriebliche Übung, wenn der Arbeitgeber aufgrund eines Irrtums glaubte, er sei zur Leistungserbringung verpflichtet. Dieser Irrtum muss für den Arbeitnehmer jedoch auch erkennbar sein. In diesem Fall kann der Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, dass ihm eine Leistung auf Dauer unabhängig von der Rechtspflicht gewährt werden soll.
5. Kann der Arbeitgeber das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindern?
Ja. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit das Entstehen einer betrieblichen Übung zu verhindern, wenn er bei der jeweiligen Gewährung der Leistung eine Erklärung abgibt, durch die er eine Bindung an sein Verhalten für die Zukunft ausschließt. Die Erklärung des Arbeitgebers muss jedoch klar und verständlich formuliert sein. Nicht ausreichend ist die bloße Bezeichnung der Leistung als „freiwillig“.
Eine Ausreichende Erklärung liegt beispielsweise vor, wenn der Arbeitgeber erklärt, dass „auch bei mehrmaliger und regelmäßiger Zahlung kein Rechtsanspruch für die Zukunft erworben wird“. Auch der Hinweis auf eine Gewährung „ohne Begründung einer künftigen Rechtspflicht“ ist ausreichend.
Die Bekanntgabe des Ausschlusses kann auch über ein Rundschreiben oder einen Aushang erfolgen. Auch eine mündliche Erklärung kann genügen, im Streitfall aber gegebenenfalls zu Beweisschwierigkeiten führen.
Neben der Erklärung bei Gewährung der Leistung, besteht auch die Möglichkeit einen sog. Freiwilligkeitsvorbehalt im Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Dieser hat zur Folge, dass das spätere Verhalten des Arbeitgebers trotz seinem gewöhnlichen Erklärungswert nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstanden werden darf. Zu beachten ist hierbei, dass es sich bei dem arbeitsvertraglich vereinbarten Freiwilligkeitsvorbehalt um eine Vertragsbedingung iSv § 305 Abs. 1 BGB handelt und sie deshalb dem Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB genügen muss. Außerdem darf der Vorbehalt den Arbeitnehmer nicht nach § 307 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BGB unangemessen benachteiligen.
6. Für welche Personen gilt die betriebliche Übung?
Von der betrieblichen Übung sind, abhängig von ihrem Inhalt, alle Arbeitnehmer des Betriebs oder nur ein bestimmter Personenkreis erfasst. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, dass von ihr nur Betriebsrentner erfasst sind, so zB bei einem „Rentnerweihnachtsgeld“.
Nach der Rechtsprechung gilt die bindende Wirkung einer betrieblichen Übung auch gegenüber denjenigen Arbeitnehmern, die selbst zwar die Vergütung noch nicht erhalten haben, weil sie die vorausgesetzten Bedingungen noch nicht erfüllen, aber unter Geltung der Übung im Betrieb gearbeitet haben.
Im Ergebnis kommt die betriebliche Übung also allen Arbeitnehmer zugute, mit denen unter Geltung der Übung ein Arbeitsverhältnis begründet wurde. Demnach kann auch ein Arbeitnehmer mit Beginn seiner Tätigkeit beim Arbeitgeber von einer betrieblichen Übung erfasst werden. Eine hiervon abweichende Regelung ist möglich. Somit können Neueintretende von der betrieblichen Übung ausgenommen werden. Dies muss jedoch bereits im Arbeitsvertrag oder spätestens beim Eintritt in den Betrieb deutlich gemacht werden.